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0,4 Sekunden Aufmerksamkeit

Kürzlich habe ich nach längerer „Radiojorns-Pause“ wieder einmal Andreas Jorns gehört, den Podcast eines Fotografen, dessen Arbeit ich sehr schätze, der mich mit seinen Themen immer wieder inspiriert und dem ich einfach gerne zuhöre. In der Folge 69 von „Radio Jorns berichtete Andreas Jorns von seinem Besuch der Photopia in Hamburg. Dort nahm er unter anderem bei einem Vortrag von Silke Güldner teil. Ich selbst habe in diesem Jahr einen sehr empfehlenswerten Workshop bei ihr besucht, in dem es um Nutzungsrechte und Honorargestaltung ging. Silke Güldner ist sicherlich vielen ein Begriff, da sie sich im Bereich "Business-Coaching" für Fotograf*innen bzw. Selbstständige in der Kreativwirtschaft einen Namen gemacht hat.

 

In dieser Folge von „Radio Jorns“ ging es um die sehr kurze Wahrnehmungsdauer eines Bildes. Wenn wir ein Foto zum Beispiel auf Instagram posten, hat dieses Bild aktuell nur mehr eine durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne von 0,4 Sekunden. 0,4 Sekunden... ich habe diese kurze Zeitspanne interessehalber einmal mit einem Timer getestet. Trotz unserer wahrscheinlich verbesserten Multitaskingfähigkeiten wird uns von den Bildern, die wir in so kurzer Zeit betrachtet haben,  kaum etwas in nachhaltiger Erinnerung  bleiben.

 

Andreas Jorns hat im Podcast auch ein Zitat gebracht, das im Rahmen des Vortrages auf der Photopia gefallen ist, das mich sehr zum Schmunzeln gebracht hat: „Die ganze Welt hat ADHS und wir alle machen mit...“. In den letzten zwei Wochen bin ich auf einer Reise verstärkt mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren und habe, anstelle selbst auf mein Handy zu schauen, mehr die Menschen um mich herum beobachtet. Diese Form von „ADHS“ (in einer erweiterten Definition) war oft zu sehen... .

Überlegungen zu meinem persönlichen Umgang mit Social Media beschäftigen mich schon länger und waren auch der Hauptgrund, warum ich seit einiger Zeit keine Posts mehr veröffentlicht habe. 

 

*Welche Bilder soll ich in den sozialen Medien veröffentlichen? 

*Was interessiert meine Follower bzw. die Menschen, die beim Scrollen bei mir hängenbleiben? 

*Meine subjektiv besten Bilder, um eine „vorzeigbare“ Galerie zu haben? 

*Bilder, die laufend bei diversen freien Projekten oder bei kommerziellen Aufträgen entstehen? 

*Bilder, die auf Reisen, Ausflügen im Rahmen meiner Slowtravel-Touren entstehen?

*Welche Ziele verbinde ich mit meinen Posts? 

 

Diese Fragen habe ich mir in den letzten Monaten öfters gestellt, zumal ich im Sommer dieses Jahres wieder einmal auf eine Studie von Microsoft Kanada aus dem Jahr 2015 gestoßen bin. Diese Studie hat weltweit für Aufsehen gesorgt. Microsoft verglich darin die deutlich reduzierte Aufmerksamkeitsspanne von Menschen, die im Rahmen dieser Studie mit acht Sekunden ermittelt wurde, mit der von Goldfischen, die bei neun Sekunden liegt. Ein Vergleich, der natürlich polarisiert, vor allem wenn wir uns vorstellen, in ein Goldfischglas zu schauen, der Fisch nach 9 Sekunden seine Runde im Glas beendet hat und sich die Welt um ihn herum dann immer wieder neu zu drehen beginnt. Welche fundierten Daten dieser Studie zugrunde liegen, will und kann ich nicht beurteilen, die Meinungen dazu gehen bei der Internetrecherche in sehr viele Richtungen. Zahlreiche Artikel beschäftigen sich mit dieser Studie und der "Generation Goldfisch"; anbei ein link zu einem Beitrag darüber von der Zeitschrift "PC-Welt".  

 

Auch wenn über diese acht Sekunden Aufmerksamkeit natürlich viel diskutiert und diese kurze Spanne hinterfragt werden kann, Fakt ist natürlich, dass durch die Vielzahl der Medien und Informationen, die uns zur Verfügung stehen, die Aufmerksamkeit für einen einzelnen Bericht, für ein einzelnes Bild sukzessive abgenommen hat. Ich merke das auch immer wieder an mir selbst, wie schnell ich durch Newsfeeds oder auch durch Social Media Posts scrolle.

 

Wie sieht es bei persönlichen Begegnungen aus? Hat sich da die Aufmerksamkeitsspanne mit "unserem Gegenüber" auch verkürzt? Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Seminar vor über 35 Jahren, das ich zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn bei einer österreichischen Großbank besucht habe. Hier ging es um den Erstkontakt mit Kunden, wo uns jungen Mitarbeiter*innen beigebracht worden ist, dass die ersten vier Minuten entscheidend sind. In der Begegnung mit Menschen sind diese ersten Minuten essentiell, ob uns jemand sympathisch ist, ob wir eine Kaufentscheidung treffen, ob wir Vertrauen zu jemandem aufbauen können. Wenn die ersten vier Minuten nicht gut verlaufen, kann die Zeit danach den unglücklichen Anfang meist nicht mehr zu einem guten Ende führen. Gilt das heute noch oder hat sich diese Zeitspanne bei persönlichen Begegnungen auch schon entsprechend verkürzt?  Ich denke, diese vier Minuten haben nach wie vor ihre Berechtigung, wenn man sich nicht nur an der Oberfläche bewegen möchte. Für mich sind die ersten Minuten einer Begegnung mit einem Mitmenschen entscheidend, ob ich mich bei oder mit jemandem wohl fühle.

 

Zurück zur Fotografie. Auch wenn täglich eine Flut an Bildern hochgeladen wird, ist die Frage gerechtfertigt, warum wir so wenig Zeit in Bilder investieren, in deren Vorbereitung, Entstehung und manchmal auch Nachbearbeitung so viel Zeit und Herzblut geflossen ist? Ich lasse mal die vielen Essensbilder („Foodporn“) oder auch manche Selfieparade außen vor. Oft entdecke ich tolle Bilder von Künstlern, die kaum Aufmerksamkeit bekommen haben. 0,4 Sekunden sind bei vielen Fotos zu wenig, um die Aussage eines Bildes umfassend zu erfassen. Aber wie kann man dem entgegenwirken?

 

Meine Konsequenz daraus ist, dass ich meinen Newsfeed reduziert und personalisiert habe. Das birgt natürlich die Gefahr, dass ich etwas verpasse, aber mit dieser Gefahr müssen wir in dieser reizüberfluteten Welt ja ohnehin leben. So versuche ich, meine Aufmerksamkeit auf die Dinge zu richten, die mir persönlich einen Mehrwert bringen, und diesen Dingen nach Möglichkeit auch etwas mehr Zeit zu widmen.

 

Vor über 90 Jahren schrieb der Schriftsteller Aldous Huxley in seinem Roman „Schöne neue Welt“: „We all are overnewsed but underinformed“. Bekannt ist dieses Zitat meinem Wissen nach durch den amerikanische Medienforscher Neil Postman geworden, der in den 80er Jahren als Kritiker des Mediums Fernsehen in der Öffentlichkeit stark präsent war. 

 

Dazu passt das Fazit eines Artikels von der "Zeit". In diesem Beitrag ging es um digitale Reizüberflutung mit dem Titel "Wie retten wir unsere Konzentration in der digitalen Welt": 

Erstrebenswert ist dann nicht mehr der endlose Newsfeed, sondern eine Auswahl relevanter Handverlesenheiten. Das allerdings macht die Filterkriterien noch wichtiger, als sie ohnehin schon sind. Um uns nicht selbst zu entmündigen, sollten wir Anwendungen bevorzugen, in denen wir die Filterkriterien so weit wie möglich selbst bestimmen.

 

Die obigen sechs Fragen, die ich mir gestellt habe und die meinen persönlichen Content als Fotograf für Social Media Plattformen betreffen, habe ich für mich immer noch nicht vollständig beantwortet.  Ja, ich werde mit Augenmaß weiter posten, auch weil ich dadurch für mich immer wieder wertvolles Feedback erhalte. Darüber hinaus möchte ich natürlich die Möglichkeit, über meine Arbeit via Social Media zu sprechen, nicht ungenutzt lassen. Damit verbinde nun ein ehrgeiziges Ziel: Ich möchte Fotos veröffentlichen, an denen die Augen der Betrachter länger als 0,4 Sekunden hängen bleiben. Ich bin gespannt, ob mir das gelingt und ob ich das auch messen kann. 

 

P.S.: Die Bilder, die ich zu diesem Beitrag veröffentlicht habe, sind dieses Jahr in Kroatien im Rahmen eines Bootsausflugs entstanden. Geplant waren Begegnungen mit Delphinen, die  meist auch nur 0,4 Sekunden dauerten, da die Delphine an diesem Tag anscheinend wenig Lust hatten, sich den Ausflüglern zu zeigen. Die Möwen hatten Lust zu kommen, angelockt durch Fisch- und Brotreste, und auch hier dauerte es gefühlt maximal 0,4 Sekunden, bis der Fisch von ihnen abgeholt wurde.

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Kommentare: 2
  • #1

    Dirk Trampedach (Donnerstag, 09 November 2023 08:52)

    Hallo Bernd,
    vielen Dank dafür, dieses eigentliche Dauerthema erneut aufzugreifen und mit deinem Background zu füllen! Ich könnte dazu ganze Bücher schreiben, aber mal in Kurzform:

    Ich bin überzeugt, wir verpassen ohne social media nichts. Und wenn doch, gibt das Raum für Geschehnisse auf andere Art. Ich selbst bin völlig ohne Accounts bei den üblichen Verdächtigen. Dort finde ich nicht statt, ok, dann eben woanders! Mich macht das zufrieden. Die Energie, die Insta & Co benötigt, steht überwiegend in keinem Verhältnis zu den Effekten. Von daher denke ich, gilt es gut abzuwägen, wohin man sich wendet. Es gibt sie, die Möglichkeiten, seinen Fotos Präsenz zu schenken dort, wo die 0,4 Sekunden weit überboten werden. Das sollte uns unsere Investition pro Foto wert sein. Deine Frage 2 ist für mich z.B. völlig irrelevant. Meine Orientierung folgt dem, was mir entspricht. Ich baue darauf, das eine gewisse Authentizität guten Boden für Interesse bereitet. Andreas Jorns, sein Radio und seine Fotografie mag ich auch sehr.

    Dir wünsche ich eine gute Ausrichtung deiner Arbeit, und vor allem, eine beseelte Fotografie!

    Herzlich, Dirk Trampedach

  • #2

    Maurice Neumann (Freitag, 10 November 2023 11:37)

    Hallo Bernd,
    dein Blogbeitrag hat mich nachdenklich gestimmt. Die Tatsache, dass ein Bild im Durchschnitt nur 0,4 Sekunden Aufmerksamkeit erhält, ist wirklich beeindruckend – oder besser gesagt, beunruhigend. Es ist faszinierend zu sehen, wie unsere Aufmerksamkeitsspanne in der Ära der digitalen Medien schwindet.

    Deine Reflexionen über den persönlichen Umgang mit Social Media und die Fragen, die du dir stellst, sind äußerst relevant. Die Überlegungen zu den Bildern, die du teilen möchtest, und die Herausforderung, die Aufmerksamkeit der Betrachter länger als 0,4 Sekunden zu halten, sind nachvollziehbar. Es ist eine Kunst, inmitten der Flut von Inhalten etwas zu präsentieren, das nicht nur oberflächlich wahrgenommen wird.

    Die Analogie mit den persönlichen Begegnungen und den ersten vier Minuten, die entscheidend sind, hat mich ebenfalls nachdenken lassen. In einer Welt, in der alles schnelllebig ist, ist es wichtig, bewusst Zeit für tiefere Verbindungen zu investieren.

    Deine Entscheidung, deinen Newsfeed zu reduzieren und dich auf handverlesene Inhalte zu konzentrieren, ist mutig und wahrscheinlich der Schlüssel, um sich nicht in der Überflutung zu verlieren.

    Ich wünsche dir viel Erfolg dabei, Fotos zu kreieren, die die Betrachter länger fesseln als 0,4 Sekunden. Es wäre interessant zu erfahren, wie du diese Erfahrung und den Erfolg in Zukunft misst.

    Die beigefügten Bilder aus Kroatien sind wunderschön und erzählen sicherlich mehr als 0,4 Sekunden Geschichte. Danke für das Teilen deiner Gedanken und Erfahrungen.

    Mit besten Grüßen,
    Maurice Neumann